Impressionen vom Tag der offenen Wohnprojekte in München

Impressionen vom Tag der offenen Wohnprojekte in München

22. Juni 2024·
Benedikt Geisler

Die Zukunft ist schon da - sie ist nur noch nicht besonders gleichmäßig verteilt.
– William Gibson


In München konnte man heute 42 mal in die Zukunft reisen. 42 Wohnprojekte öffneten sich und dort lebende Menschen führten mit viel Engagement, Detailwissen, aber auch dem ein- oder anderen kritischen Blick durch ihre Wohnprojekte. Vier genossenschaftliche Projekte - Wagnis 1 & 4 am Ackermannbogen sowie Wagnis RIO und San Riemo in der Messestadt Riem habe ich besichtigen können.

Wagnis 1

Eine bunte Gruppe von etwa 25 Interessierten findet sich vor dem Rigoletto, dem zu Wagnis 1 gehörigen Quartierscafé, ein. Christl Karnehm, die selbst seit vielen Jahren im Wagnis 1 wohnt, führt redegewandt und mit viel Wissen um die Hürden und Anstrengungen der Anfangszeit der Wagnis durch deren erstes Projekt. Schon nach den ersten Worten wird klar, dass eine Genossenschaft - wie jede Gemeinschaft - von dem Engagement einzelner lebt. “Diese Bäume dort drüben haben wir einer älteren Bewohnerin zu verdanken, die sich gleich zu Beginn vehement für deren Erhalt eingesetzt hat und sie nicht den Planierraupen weichen müssen, wie von der Stadt geplant”.

Überhaupt, meint sie weiter, braucht es am Anfang immer einen oder mehrere Menschen, die mit besonderem Einsatz und Beharrlichkeit ein solches Projekt vorantreiben. Obwohl die Stadt München der Wagnis und den weiteren Genossenschaften mittlerweile die Grundstücke auf dem Silbertablet darreicht, war die Situation Ende der 90er noch eine ganz andere. Die Pionierarbeit wollte erst noch geleistet werden, und bei der Wagnis war das vor allem Elisabeth Hollerbach, die darüber ihren Buchladen in Schwabing mehr als nur vernachlässigte. Aber es zahlte sich aus: von der Genossenschaftsgründung im Jahr 2000 waren es nur noch vier Jahre bis zum Einzug in das erste Projekt.

Allen Anfang nahm es mit den Schwabinger Wohnprojekttage 1998. Dort trafen sich Gruppen, die an Wohnprojekten interessiert waren und tauschten sich aus. Zusätzlich gab es weitere Planungs- und Netzwerktreffen in Räumen der lokalen Kulturzentren. Doch die Fluktuation war hoch, und so kam es zu zwei Entscheidungen, die sich im Nachgang als sehr erfolgreich herausstellten. Zum einen fusionierten die bestehenden Gruppen und Grüppchen und bündelten ihre Kräfte, und zum anderen gründeten sie einen Verein mit einem Eintrittsgeld von 1000 € um Verbindlichkeiten zu schaffen und in der Planung voranschreiten zu können. Erst nachdem man Mitglied geworden war, bekam man die Möglichkeit in dem Projekt mitzuwirken. Nach Fertigstellung ist der Verein mittlerweile zusammen mit anderen in dem Quartiersverein Ackermannbogen e.V. aufgegangen.

Schnell bildeten sich dann spezialisierte Arbeitsgruppen um die Arbeitslast der Planung besser bewältigen zu können. Dieses Konzept hat sich als sehr erfolgreich erwiesen und lebt so auch nach Einzug in allen besichtigten Genossenschaften weiter. Zudem waren während der Bauzeit pro Erwachsenen 80 Arbeitsstunden im Jahr an Eigenleistung zu erbringen, um die Baukosten zu drücken. An die “hunderte Meter Fußbodenleisten” die sie dabei verlegt habe, erinnert sich Christl Karnehm lebhaft. Aber die Arbeit hatte auch einen unerwarteten Nebeneffekt: sie legte den Grundstein für die guten Kontakte zwischen den Bewohner:innen, die sich dabei kennen und schätzen lernten und zusammen etwas geschaffen haben, von dem sie immernoch profitieren. Bis heute sind pro Jahr zehn Arbeitsstunden verpflichtend.

Wie lebt es sich in Wagnis 1?

Mir persönlich geht es nicht anders als den anderen in der Gruppe - jede:r von uns würde sofort einziehen. Das Quartier am Ackermannbogen ist verkehrsberuhigt und dadurch ruhiger als so manches Dorf. Im Garten herrscht durch die alten Bäume ein angenehmes Klima an diesem heißen Sommertag. Kinder spielen völlig unbekümmert unter dem großen Torbogen, der auch als überdachte Bühne dient. Alle Wohnungen haben großzügige Balkone oder kleine Gärten im Erdgeschoss, dazu kommt der gemeinschaftliche Garten. Es ist eine Wohlfühloase, mitten in der Stadt. Das ist mittlerweile auch bekannt, und Wohnungen sind selbst Wagnis-intern nur sehr schwer zu bekommen. Wer hier wohnt, zieht nur ein letztes Mal wieder aus.

Die Wohnungen sind alle barrierefrei, dazu sind zwei rollstuhlgerecht. Die im Erdgeschoss befindlichen Gemeinschaftsräume sind auch ein Segen für die Nachbarschaft. Dort finden vielfältige Kurse, Hausaufgabenbetreuung, Feste und vieles mehr statt. Für zwölf Euro pro Stunde können sie erschwinglich auch von extern gemietet werden.

Probleme gibt es bisher kaum, auch wenig Reibung, reflektiert Christl Karnehm. Und das strahlt dieses Wohnprojekt auch aus.

Wagnis 4

Wagnis 4 liegt drei Fußminuten entfernt. Es ist das erste Holzbauprojekt der Wagnis und weithin bekannt für seinen (preisgekrönten) Dachgarten. Geschickte, durch Pflanzungen hergestellte “Grundrisse” trennen mehrere “Gartenzimmer” voneinander ab und schaffen so die Möglichkeit, dass mehrere Parteien individuell den Garten nutzen können. Weiterhin gibt es ein Gewächshaus und einen Nutzgarten. Der Garten sei mittlerweile so beliebt, dass man den Zugang leider absperren müsse, so Doris Knaier, die die Führung leitet, da ihn vermehrt auch Nicht-Bewohner genießen wollten.

Es ist ihr sehr daran gelegen, ein realitätstreues Bild der Genossenschaften fein von Schönfärbung zu zeichnen. Man merkt, dass sie weiterhin voll von dem Projekt und der urdemokratischen Idee Genossenschaft begeistert ist, aber sie will auch mit populären Märchen über Genossenschaften aufräumen.

Märchen 1: die Miete in Genossenschaften ist deutlich unter dem Marktdurchschnitt. Auch Genossenschaften haben Kapitaldienst, Instandhaltung und Verwaltung zu leisten. Zu Projektbeginn ähneln sich die Mieten daher dem des Marktes.

Märchen 2: die Miete wird nie erhöht. Natürlich sind Genossenschaften auch dem Markt und der Inflation ausgesetzt, und nach zehn Jahren steht mit Auslauf der Zinsbindung meist eine Refinanzierung an. Will die Genossenschaft liquide bleiben, muss sie darauf reagieren und die Mieten korrigieren. Im Gegensatz zu Investoren jedoch darf sie per Genossenschaftsgesetz keinen Gewinn erwirtschaften. Die Miete, oder Nutzungsentgelt, wie es für Genossen heißt, ist daher eine Kostenmiete, die nur die real anfallenden Kosten deckt.

Konflikte gebe es in einer solchen Gemeinschaft natürlich auch, erzählt Doris Knaier. Dafür habe Wagnis 4 mittlerweile aber einen guten Prozess gefunden. Im ersten Schritt müssen die Streithähne miteinander reden und versuchen, den Konflikt unter sich zu klären. Erst dann können sie eine dritte Person, die beider Vertrauen genießt, hinzuziehen. Und darauf legen die Bewohner:innen auch Wert. “Hast du denn schon mit ihr/ihm geredet?” sei eine oft gehörte Gegenfrage, wenn sich ein:e Bewohner:in bei eine:r anderen über den Konflikt beschwert. Erst im letzten Schritt kommen interne oder externe Mediatoren hinzu um den Streit zu lösen.

Auch diese Projekt ist eine Stadtoase. Auf dem Dachgarten könnte man Urlaub machen, und der innenliegende Garten mit seinem kleinen Bächlein, den Obstbäumen und dem Sandloch für die Kinder hat gleichermaßen den Charakter eines Dorfplatzes wie eines Abenteuerspielplatzes.

Wagnis RIO

Wagnis RIO ist Großstadtrand. Die zur Messe hin zeigende, zweihundert Meter lange Fassade lässt daran keinen Zweifel. Doch die hölzernen Türlaibungen, die Holzfassade ab dem ersten Stock und die übergroßen Porträts der Bewohner:innen lassen erahnen, dass hier etwas anders ist als bei den umliegenden als weißen Stadtkartons getarnten Häusern. RIO ist das erste Gemeinschaftsprojekt der Genossenschaften Wogeno und Wagnis. Die Trennung läuft dabei mitten durch das Gebäude, durch den Gemeinschaftsraum. Im Alltag der Bewohnenden gibt es keine Unterschiede, sie fühlen sich als Hausgemeinschaft.

Wir bekommen Einblicke in die Gemeinschaftsräume: ein kleines, gemütliches Wohnzimmer, daneben der Waschraum, bei dem für 1 € pro Waschgang die Maschinen genutzt werden können, den Yogaraum, den Kreativraum, der von einer im Wohnprojekt lebenden Künstlerin geleitet wird und den “Hub”, den nicht-öffentlichen Hauptgemeinschaftsraum des Wohnprojekts. Im Keller gibt es zudem einen Toberaum mit Kletterwand für die Kinder und eine Werkstatt.

Es wäre kein Wagnis-Projekt ohne Dachgarten. Durch das zweihundert Meter lange Gebäude ist der erwartungsgemäß imposant. Zur Messe hin weißt er eine übermannshohe Schallschutzwand zur Messe hin auf, die zusätzlich mit Photovoltaikpaneelen versehen ist und ihre Aufgabe gut erfüllt. Weitere Paneele finden sich in drei Reihen unterhalb der Dachterrasse. Installiert und betrieben wird die Anlage von der Isarwatt Energiegenossenschaft im Mieterstrommodell und deckt etwa 30 Prozent des Verbrauchs von Wagnis RIO.

Der niedrige Stellplatzschlüssel von 0,5 Stellplätzen von Wohnung wird durch die gemeinsame Tiefgarage mit dem benachbarten Wohnprojekt San Riemo erfüllt. Neben sechs Car-Sharing Autos gibt es auch Pedelecs und Lasten-Pedelecs zu leihen. Wer in Wagnis RIO einziehen will und ein Auto mitbringt, muss zwingend auch einen Stellplatz mieten. Sollte kein Stellplatz mehr frei sein so bleibt einer draußen: das Auto oder der/die Bewohner:in in spe.

San Riemo

Direkt daran schließt sich San Riemo an, das erste Projekt der Kooperativen Großstadt eG. Seine auffällige, weiß-minzgrüne Fassade mit den mit Plastik “verglasten” Laubengängen sticht sofort ins Auge. Ähnlich geht es in der Lobby weiter, dem großen Eingangsbereich im Erdgeschoss, der gleichzeitig Stau- und Waschraum, Gemeinschaftsraum, Rennstrecke für die Kinder und unkomplizierter Treffpunkt ist. Es schließt sich eine kleine Küche an, die mit einigen Tischen einen Café-ähnlichen Charakter hat. Ungewöhnlich ist auch die vollverglaste Werkstatt direkt hier im Erdgeschoss. Was auf den ersten Blick etwas karg und ungemütlich wirkt hat sich als erstaunlich praktikabel im Alltag erwiesen. Die Waschmaschinen werden gerne genutzt und die Bewohner:innen kommen hier ins Gespräch und halten sich gerne hier auf. Trotz seiner Funktionalität gibt der Raum nicht das Gefühl, sich in einem Zweck-Raum zu befinden sondern versprüht eher industriellen Charme.

Über zwei knallbunt gestrichene Treppenhäuser erschließt sich das Haus. “Das sieht ja aus wie in einem Club im Berlin der 80er!” entfährt es einem aus der Gruppe, als wir das magentafarbene Treppenhaus hinauflaufen und die erste Wohnung besichtigen. Dort steht man - wie in allen Wohnungen in diesem Haus - sofort im Wohn-Essbereich, von dem alle weiteren Räume erschlossen werden. Um Wohnraum möglichst effizient zu nutzen gibt es hier keine Flure. Und das funktioniert erstaunlich gut. Die Wohnung ist natürlich auch geschickt eingerichtet und die Schreinerküche mit der Kochinsel ein Blickfang. Das ganze Haus wurde als Raster geplant, bei dem nur die tragenden Elemente vorgegeben wurden, die einzelnen Wände jedoch individuell mit Leichtbauwänden von den Bewohner:innen “programmiert” werden können. Zwar ist der Schallschutz geringer als bei herkömmlicher Bauweise, das sei jedoch kein Problem. Nur der Trittschallschutz, bei dem beim Bau gepfuscht wurde, muss jetzt im Nachhinein noch korrigiert werden, was für einigen Ärger sorgt.

Obwohl Riem der Stadtrand von München ist, fühlt es sich durch die U-Bahn vor der Haustüre nicht so an. Im Gegenzug ist der nahe See ein großer Pluspunkt der Messestadt.


Nach diesem Projekt bin ich ziemlich gerädert, hole mir am Hauptbahnhof noch eine Paulaner Spezi und fange an diesen Artikel zu schreiben. Ich jedenfalls weiß jetzt für meine Familie, wie die Zukunft aussehen wird. Schöner wird’s nicht mehr.

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